Kapitel 7: Sich verletzt
Emmett hatte auch nicht damit gerechnet, Alyssa hier zu treffen. Mit mehreren Gangmitgliedern und Kriminellen, die sich im Schatten versteckten, war es kein sicherer Ort für Frauen. Nun, es war auf jeden Fall kein sicherer Ort für irgendjemanden, es sei denn, sie wollte getötet werden.
Emmet verfolgte einen Mann bis hierher, aber er rechnete nicht damit, stattdessen angegriffen zu werden. Zu diesem Zeitpunkt war es unmöglich wegzulaufen. Also mussten sie einen Ort finden, an dem sie sich verstecken konnten. Die Behausungen standen dicht beieinander und das Gelände war unwegsam, so dass er schnell die Orientierung verlor und es fast unmöglich war, zu erkennen, wo sie sich befanden.
Er versuchte, einen seiner Angreifer als Geisel zu nehmen und diesen Mann dann zur Flucht zu benutzen, begegnete dabei jedoch zufällig Alyssa. Aber er wusste nicht, warum ihn ein unerklärliches Gefühl des Vertrauens überkam, als er Alyssas kleines, ausdrucksloses Gesicht sah. Er steckte seine Waffe weg und fixierte sie mit seinen düsteren Augen. Seine Stimme war leise und kalt. „Was machst du hier?“
„Ich wohne hier.“ Alyssa antwortete. Obwohl er seine Waffe bereits weggesteckt hatte, konnte sie immer noch die kalten Überreste des harten Metalls an ihrer Stirn spüren. Alyssa war so verängstigt, dass sie die Wahrheit sagte.
Ein überraschter Blick blitzte in Emmetts Augen auf. Was? Wie konnte das Kind der Familie Moore an einem so schrecklichen Ort leben? Er behielt jedoch bald die Fassung und befahl kühl: „Bring mich zu dir nach Hause.“
„Unmöglich!“ Diesen Mann in ihr Haus zu lassen, wäre gleichbedeutend damit gewesen, einen Todesvertrag zu unterschreiben!
„Gut.“ Emmett hatte das schon erwartet. Er grinste höhnisch und seine Stimme war tief wie ein Geist. „Dann soll ich meinem lieben Cousin erzählen, dass du mich verführt hast?“
Was? Verführt ihn? Hat dieser Mann sie gerade bedroht? Alyssa ballte die Hände, ihr Gesicht war vor Wut gerötet, aber sie konnte nichts tun. Emmett würde Justin definitiv glauben. Immerhin waren sie Cousins. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als diesen schamlosen Mann zu sich zu nehmen.
„Gut.“ Alyssa drehte sich um und ging den Weg entlang, den sie gekommen war. „Folge mir.“ Dieses ganze Gespräch hatte nur eine Minute gedauert.
Die beiden waren gerade ein paar Sekunden die Gasse entlanggegangen, als ein lauter Knall durch die Straßen hallte. Danach tauchten zwei Männer in Schwarz an der Stelle auf, an der sie gerade waren. Alyssa erstarrte. Ihr Gesicht wurde noch blasser.
Sobald Emmett die Schritte hörte, reagierte er schnell und zog Alyssa in eine andere Gasse und schleppte sie in einen beliebigen Raum, in dem sie bleiben musste. Das Haus war bereits verlassen, also bestand keine Gefahr, erwischt zu werden. Er legte seinen Finger auf die Lippen, um ihr zu bedeuten, still zu sein, während er durch das Türloch spähte. Sie warteten beide im Zimmer, bis die beiden Männer gegangen waren, und dann zog er Alyssa heraus.
Was zur Hölle war das? Alyssa war nervös und besorgt. Sie wusste nicht, was für Leute „Justin“ provoziert hatte, aber sie wusste, dass es nicht an der Zeit war, ihn zu verhören. Also zwang sie sich, still zu sein. Einen Moment später erreichten sie Alyssas kleine Einzimmerwohnung. Alyssa stand an der Tür und sah sich um, als würde sie in ihr eigenes Haus einbrechen. Als sie sah, dass alles in Ordnung war, ließ das Adrenalin in ihren Adern nach und sie zog sich ins Zimmer zurück.
Alyssa schloss die Tür und drehte sich um, um zu fragen: „Was zum Teufel machst du …“ Bevor sie die nächsten Worte sagen konnte, sah sie, wie sein großer Körper plötzlich zu Boden sank. Er legte eine Hand auf seine Brust, als wollte er ein Stöhnen vor Schmerzen unterdrücken. Seine Stirn war schweißbedeckt.
„Hey! Was ist los mit dir?“ Alyssas Gesicht änderte sich augenblicklich, als sie eilig herüberkam, um ihm zu helfen. Emmett war jedoch zu groß und sein Körper war muskulös und straff. Ihre kleinen Arme und Beine konnten ihn nicht nur nicht hochheben, sondern waren auch noch blutüberströmt. Erst dann sah sie, dass „Justins“ Gesicht so blass wie ein Blatt Papier war. Sein schwarzer Anzug hatte die Tatsache, dass sein ganzer Körper mit Blut bedeckt war, sehr gut verborgen. „Was? Was ist mit dir passiert?“ Alyssa riss die Augen auf und auch ihre Worte waren ausdruckslos.
Als Emmett ihr verwirrtes Gesicht sah, streckte er plötzlich die Hand aus und ergriff sie. Seine dünnen Lippen öffneten sich: „Wovor hast du solche Angst? Entspann dich! Falls ich sterbe, werden sie dich einfach mit mir begraben.“
Sein Ton war so gleichgültig, dass es schwer war zu sagen, ob er sie tröstete oder bedrohte. Auch Alyssa wollte ihm nicht zuhören. Sie dachte an den Schuss, den sie zuvor gehört hatte, und sagte mit ernster Miene: „Nimm deine Hände von mir. Ich hole mein Handy und rufe einen Krankenwagen für dich!“
Sein Gesicht verfinsterte sich plötzlich, als der Griff um ihre Hand fester wurde. Seine Stimme war sehr kalt. „Ruf Krankenwagen nicht.“
So wie er sprach, war es schwer, mit ihm zu streiten. Alyssas Hände zitterten, als sie mit zögerlicher Stimme fragte: „Wie wär’s dann, wenn ich deine Wunde verbinde?“
Emmett ignorierte Alyssa direkt und befahl mit tiefer Stimme: „Klinge, Feuerzeug, Kerze, Verband, Handtuch.“
Er wollte die Kugel alleine holen? Als Alyssa daran dachte, schüttelte sie erschrocken den Kopf. „Nein! Du kannst die Kugel nicht selbst ausnehmen. Sie wird dich töten!“
„Wer hat gesagt, dass ich es selbst nehme?“ Emmett sah sie an. Seine tiefen Augen waren so dick wie die dunkle Nacht, wie ein schwarzer Wirbel. Mit einem Blick konnte er Menschen in seinen Bann ziehen.
Gerade als Alyssa von diesen Augen fast eingesaugt wurde, hörte sie ihn schwach sagen: „Das wirst du tun.“